Angehörigengruppe Mittelhessen e.V. Familien-Selbsthilfe Psychiatrie
Das Angehörigenbuch Dieses Buch erschien zehn Jahre nach Gründung der Gesprächsgruppe und fasst die Erfahrungen dieser Jahre zusammen. „Das Angehörigenbuch“ wendet sich an Angehörige und Freunde von psychisch Erkrankten, aber auch an professionelle Helfer und alle, die an der Lage von Familien mit psychisch Kranken interessiert sind. Das Angehörigenbuch herausgegeben zum zehnjährigen Bestehen der Angehörigengruppe am Zentrum für Psychiatrie des Universitätsklinikums Gießen. Mit Beiträgen von Michael Franz, Uwe Kropp und Christine Kern - 170 Seiten, broschiert, ISBN 3-936705-43-7 Preis 10 Euro Bestellungen direkt über das Büro des Angehörigenvereins oder E-Mail: kontakt@angehoerige-mittelhessen.de                                                                                                                     Das Angehörigenbuch basiert auf den Erfahrungen von zehn Jahren Angehörigengruppe am Zentrum für Psychiatrie des Universitätsklinikums Giessen. Es wendet sich an die Familien, um ihnen zu vermitteln, dass sie mit ihren Problemen und Sorgen nicht alleine stehen, aber auch an Helfer aus dem psychiatrischen und psychosozialen Bereich und an sozialpolitisch Verantwortliche. Das  Buch stützt sich auf authentische „Fallberichte“ aus den monatlichen Gruppentreffen, die  - selbstverständlich in anonymisierter Form - in den Rundbriefen der Gruppe dokumentiert sind. Die ärztliche und pflegerische Seite kommt ebenfalls zu Wort mit Beiträgen von Dr. Michael Franz, Oberarzt am Zentrum und vor zehn Jahren erster Begleiter der Gruppe, Uwe Kropp, Pflegedienstleiter, und Christine Kern, Ärztin am Zentrum für Psychiatrie. Finanziell unterstützt wurde die Herstellung des Buches von  der AOK Hessen, dem VdAK Hessen und dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband Textauszug aus „Das Angehörigenbuch"  " …. Nachdem Angehörige von psychisch Kranken lange Zeit im günstigsten Fall als lästige Begleiterscheinung der Patienten und Klienten gesehen wurden, tut man ihnen heute hin und wieder etwas Gutes und bezeichnet sie als „Experten in eigener Sache“. Der anerkennende Begriff soll wohl besagen, dass Angehörige sowohl im Bezug auf den Kranken als auch auf sich selbst über Erfahrungen verfügen, die sie zur Bewältigung der Krankheitsproblematik einsetzen können. Diese Angehörigen-Experten mag es geben; aber wie jede Art Expertentum gewinnt man auch dieses nicht in kurzer Zeit, und mancher  gewinnt es leider überhaupt nicht. Eine Hausfrau, die jahrelang ihre Familie verpflegt, wird dadurch ja auch nicht unbedingt zur Meisterköchin. Richtig ist, dass Angehörige den Kranken gut kennen, in guten wie in schlechten Tagen, und daher gegenüber professionellen Helfern einen Erfahrungsvorsprung haben. Angehörige sind Experten für den Alltag, aber eben nur für ihren Alltag. Was ihnen fehlt, ist ein Vergleichsmaßstab, der ihnen die Einordnung ihrer Erfahrung und angemessene Reaktionen darauf erlauben würde. Diesen Maßstab können sie bis zu einem gewissen Grad in einer Angehörigengruppe finden. Professionellen Helfern fehlt wiederum die Alltagserfahrung, doch haben sie theoretisches und praktisches Wissen, den Überblick über viele Fälle und persönliche Distanz. Wenn Angehörige in der Gruppe über ihre Alltagssorgen berichten, ist dies für die professionellen Helfer eine Gelegenheit, ihre mangelnden Alltagserfahrungen aufzubessern. ... Es liegt auf der Hand, dass die Kombination der jeweiligen Kompetenzen allen Beteiligten – Profis, Patienten, Angehörigen – Vorteile bringen kann... Aus einem Rundbrief Alles hat zwei Seiten.... „ … Es ist schwer mit anzusehen: Ein Mensch in den besten Jahren, physisch gesund, hängt nur zu Hause herum, schläft, sieht fern, lässt sich von den Eltern bedienen. Gewiss, er war schwer psychisch krank und auch längere Zeit in einer Klinik – aber das ist schon eine ganze Weile her. Müsste er sich jetzt nicht bemühen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen, sich vielleicht um eine Arbeit kümmern? Und wenn er es nicht selbst tut: Sollten die Eltern ihn nicht dazu drängen, müsste sich der Betreuer nicht intensiver darum kümmern? Auch die ärztlichen Bemühungen scheinen den beiden Angehörigen – Geschwister des Erkrankten – unzureichend: Müsste nicht auch psychologische ‚Aufbauarbeit’ und Begleitung stattfinden? Die regelmäßige Verabreichung eines Medikaments – ist das alles, was an therapeutischer Arbeit zu leisten ist? Und dann die praktischen Fragen: Was wird, wenn die Eltern die Betreuung des Kranken nicht mehr leisten können? Wird dieser nicht einer Entwicklungschance beraubt, wenn er ewig das ‚kranke Kind’ im Haus der Eltern bleibt? Sehr verständlich, dass sich die Geschwister schwer tun, den gegenwärtigen Zustand einfach hinzunehmen, in ehrlicher Sorge um den Kranken und die Eltern. Darf und muss man nicht – so ihre Frage –  jemanden auch ‚zu seinem Glück zwingen’? Nein – so lautete die überwiegende Meinung in der Diskussion. Mit Zwang lässt sich ‚Glück’ nicht herbeiführen. Wenn weder der Patient noch die Eltern oder der Betreuer einen Veränderungsbedarf sehen, muss das erst einmal so hingenommen werden. Es gibt – diese Erfahrung haben schon viele von uns gemacht – keine einfachen Lösungen im Sinn von: Problem erkannt/ Lösung gesucht/ gefunden/ umgesetzt – alles in Butter. Die Standpunkte der Geschwister sind nachvollziehbar, doch auch die des Kranken und der Eltern verdienen Beachtung, und zwar nicht nur deshalb, weil ohne deren Einverständnis kaum eine positive Entwicklung vorstellbar erscheint. Die Schwierigkeit ist, dass jede Seite mit ihrer Einschätzung richtig liegen könnte, wie die folgenden Gegenüberstellungen aus der Diskussion zeigen. Einerseits: Der Kranke könnte (derzeit oder auch auf Dauer) wirklich zu krank sein (Stichwort: Minussymptomatik), um aktiv zu sein. Andererseits: Wenn er nicht gefordert und gefördert wird, kann er nie ausprobieren, welche Entwicklungsmöglichkeiten er hat. Einerseits: Gewiss wird der Patient von den Eltern vielleicht zu stark umsorgt, aber wer weiß, ob ihm das in seiner derzeitigen Lage nicht gerade gut tut? Wenn das Zusammenleben von Eltern und Patient einigermaßen harmonisch verläuft, was ist daran so furchtbar schlimm? (Einwurf einer Angehörigen: Wenn er eine schwere körperliche Krankheit hätte, würde man ja auch Rücksicht nehmen und Geduld üben!) Andererseits: Wäre es nicht weitsichtig, die Unabhängigkeit des Patienten zu fördern, weil die Eltern ja auch nicht jünger werden und weil sie auf Dauer andere soziale Kontakte des Patienten nicht ersetzen können? Schließlich: Hat ein Patient nicht das Recht, irgendwann im Lauf einer chronischen Krankheit mit permanenter therapeutischer Bemühung in Ruhe gelassen zu werden, wenn er seinerseits andere nicht belästigt? Aber: Bedeutet das nicht, ihn quasi aufzugeben? Einerseits, was die Medikamente betrifft: Kann man nicht schon ziemlich froh sein, wenn der Patient immerhin regelmäßig eine Ambulanz aufsucht, Medikamente nimmt und einigermaßen im Gleichgewicht ist? Andererseits (darauf machten die Kliniker aufmerksam, Angehörige bestätigten das): Die Art des Medikaments und die Höhe der Dosis haben starken Einfluss auf den Antrieb des Patienten. Moderne Neuroleptika haben in dieser Hinsicht Vorzüge, sie stehen jedoch noch nicht als Depotspritze zur Verfügung. Dieses Für und Wider wird hier so ausführlich geschildert, weil der Fall geradezu typisch die Konflikte spiegelt, in die Familien mit einem psychisch Kranken kommen. Es wäre für die Betroffenen vielleicht nützlich, sich die grundsätzliche Berechtigung beider Sichtweisen vor Augen zu führen und sie als solche erst einmal stehen zu lassen. Das kann die Familiensituation entspannen, man sieht manches gelassener, Vertrauen kann sich entwickeln, und es hebt die Stimmung! Davon profitieren alle – nicht zuletzt auch der Patient selbst. Vielleicht kommt irgendwann die Stunde, in der er von allein Bereitschaft zeigt, etwas Neues zu wagen. Dann wäre es wichtig, nicht den Rechthaber zu spielen, sondern zu sagen: ‚Wenn du meinst, ist es gut  - wir helfen dir, wenn wir können. Wir helfen dir auch, wenn es nicht gleich klappt’. Gerade Eltern möchten oft jedes Risiko ausschalten, um ihrem Kind ein Scheitern zu ersparen. Veränderung birgt aber immer ein Risiko – die  ängstliche Vermeidung von Veränderung allerdings ebenfalls. Die Konsequenz kann eigentlich nur sein: ein Scheitern ist kein Drama, einen neuen Versuch machen, einen günstigeren Zeitpunkt abwarten, etwas anderes ausprobieren. So lange, bis Möglichkeiten und Fähigkeiten  einigermaßen zur Deckung kommen. Zugegeben ein oft hartes Training für die Geduld und die Frustrationstoleranz aller Beteiligten.
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